Jürgen Reichert

Essay

Lichtwesen. Die geheimnisvolle Skulpturenwelt des Jürgen Reichert

„Lichtwesen“, so nennt der Künstler seine Skulpturen, die wie Geschöpfe aus der Welt der Phantasie jeden bezaubern, der mit ihnen in Berührung kommt, die ihn ganz sanft aus der Realität entführen in anmutige Träume. Sie flimmern und fließen, scheinen sich zu bewegen und in einem harmonischen Rhythmus zu schwingen. Und sie erinnern in ihren biomorphen Formen an Lebewesen aus der Natur: Aber sie ahmen Natur nicht nach, sie folgen nur gewissen Grundmustern und wandeln diese ab. Und sie leuchten – es ist ein Leuchten von innen heraus, in wechselnder Intensität und Farbe, welches sie lebendig erscheinen lässt. Sie sind fremd und doch irgendwie vertraut, als wäre man ihnen schon früher einmal irgendwo begegnet.

Das „Trägermaterial“ dieser Objekte ist meist Silikon, gelegentlich ergänzt durch Wolle oder andere textile Stoffe, die Bearbeitung kompliziert und aufwändig – es werden jedoch nie Formen verwendet, jedes Stück ist ein Unikat. Die eigentliche Gestaltung aber geschieht durch Licht: Vielerlei Lichtquellen und unterschiedliche Lichtarten sind das Material, das Leben erzeugt.

Zum optischen Eindruck kommen noch haptische Empfindungen, meist warm, weich und angenehm, gelegentlich einmal aber auch hart und borstig. In einem Fall gibt es sogar Geruchsempfindungen, die durch Berührung ausgelöst werden, und zwar beim „Venusschuh“ – einer Skulptur, die mit ihrer Anlehnung an eine Orchidee zugleich erotische Assoziationen mit der Anmutung einer fleischfressenden Pflanze – wachruft; und die, hier kommt nun noch eine Prise Ironie und Witz hinzu, beim Anfassen leise stöhnt. Manchmal können diese Geschöpfe auch geradezu angsteinflößend wirken, dann ist es so, als ob Hieronymus Bosch sie erfunden hätte.

Im Lauf der Zeit haben sich die Formen der Skulpturen ganz von selbst in bestimmte Kategorien eingeordnet: Da sind etwa die Blumenwesen, die aber auch nie ganz wie echte Blumen aussehen sollen: Die „Viola Maxima“ ist mehr der Begriff eines Stiefmütterchens als ihr Abbild und wird dennoch damit in Verbindung gebracht. Und die „Blaue Blume“, die durchaus mit Absicht an die „Blaue Blume der Romantik“ erinnert, lässt am Tage nur ihren weißen Blütenkelch sehen, doch im Schwarzlicht erwacht sie erst richtig zum Leben und dann umschwärmen sie tatsächlich Motten und Schmetterlinge. Oder die „Anemone pluvial“, die sogar wasserdicht ist und auch auf einem Rasen ihr Farbenspiel entfalten könnte. „Berührung“ heißt ein um einen Kern gruppiertes Geflecht, das ebenfalls seine Farbe verändert, und damit auch auf den direkten Kontakt mit dem Menschen antwortet.

Durchsichtigkeit und eine ganz bestimmte Farbenpalette sind für Wesen aus der Wasserwelt charakteristisch, und mit dieser beschäftigt sich Jürgen Reichert derzeit intensiv. Manchmal weiß man nicht, ob sie der Pflanzen- oder der Tierwelt zugehören, diese schwebenden, durchsichtigen Gebilde, die man auf dem Meeresgrund vermuten würde, wo sie matt schimmerndes Licht verbreiten. Ihre Anmut und Schwerelosigkeit suggerieren Wasser auch im Trockenen, ein weiteres Beispiel für Reicherts Zauberkünste.

Viele Experimente und Überlegungen sind notwendig, um diese starke und doch fast selbstverständliche Ausstrahlung der Skulpturen zu erreichen. Nichts Angestrengtes oder Gezwungenes ist zu bemerken. Der Künstler sagt – und er sagt es ebenso überzeugend wie selbst überzeugt: Eigentlich ginge es ihm immer darum, Menschen anzusprechen, möglichst viele Menschen anzusprechen, möglichst viele Menschen aller Altersstufen. Er selbst ist immer neugierig, und er möchte auch die anderen neugierig machen, sie anregen Neues zu sehen;  ihnen die Augen zu öffnen. Das gelingt verblüffend gut, und offenbar verstehen alle die Botschaft, intuitiv oder durch Überlegung, Junge wie Alte, weil das Spielerische, das sich in diesen Arbeiten ausdrückt, auch in jedem Menschen steckt. Wer immer sich etwas von der Phantasie  und der Fähigkeit des staunenden Kindes bewahrt hat, das durch die Dinge hindurchzusehen vermag, wird sich diesen Lichtwesen mit Leib und Seele gefangen geben, wird seine eigenen Phantasien bei ihnen wieder finden oder neu erfinden. Und er wird, verzaubert durch ihre liebenswerte Präsenz, ganz einfach glücklich sein.

Charlotte Blauensteiner, Kunsthandwerk & Design